14.11.2024 - Die Digitalisierung kann die Lehrer nicht ersetzen

Der amerikanische Psychologieprofessor Jonathan Haidt nennt die Jugend von heute eine „Generation Angst“. Sein Befund: „Wir verlieren unsere Kinder an die virtuelle Welt und setzen ihre psychische Gesundheit aufs Spiel.“ Dr. Michael Storch nannte diese Entwicklung „besorgniserregend“. Der stellvertretende FDP-Stadtverbandsvorsitzende leitete die Diskussion, deren brisantes Thema durchaus mehr Zuhörer verdient gehabt hätte.

Sinnloses Spektakel

Einen – ziemlich ernüchternden – Überblick über den derzeitigen Forschungsstand gab Michael Felten. Die Einführung und Verbreitung des Smartphones hat seinen Angaben zufolge eine wichtige Rolle dabei gespielt, dass deutsche Schüler in internationalen Vergleichsstudien immer schlechter geworden sind. Hochproblematisch fand Felten es, dass die digitalen Geräte die Kinder mit Reizen überfluten, die nicht in der Wirklichkeit verankert seien. Heutzutage seien Kinder gesättigt mit sinnlosem Spektakel. „Sie haben schon fast alles gesehen, aber nichts verstanden.“ 

Diese Entwicklung hat Konsequenzen. „Die Rolle des Lehrers verändert sich“, war Felten überzeugt. Er weiß, wovon er spricht. 35 Jahre unterrichtete er als Gymnasiallehrer Mathematik und Kunst in Köln und war Lehrbeauftragter in der Lehrerausbildung. 

Wenn elektronische Geräte im Unterricht zugelassen werden, sei die Verführung für Schüler groß, sich ablenken zu lassen. „Dann wird eine neue Schere aufgehen“, prophezeite Felten. Zwischen denen, die sich nicht kontrollieren können, und denen, die konzentriert und diszipliniert arbeiten. „Das ist die neue Elite.“ 

Dem Lehrer kommt nach Feltens Auffassung in diesem Prozess die Aufgabe zu, Schülern als Orientierung und Leitplanke zu dienen. „Die modische Vision vom Lernbegleiter greift zu kurz“, betonte er. Die überfällige Qualitätssteigerung von Unterricht, vor allem die gezielte Unterstützung von Schülern mit Lernschwierigkeiten, erfordere vielmehrhochgradig lenkungs- und beziehungsaktive Lehrpersonen. „Unterricht ist Beziehungssache“ heißt nicht ohne Grund einer von Feltens pädagogischen Ratgebern. „Digitalisierung“, so Feltens Fazit, „kann den Lehrer nicht ersetzen.“ 

Menschenverachtende Inhalte

Dr. Timm Kern wies zunächst auf die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Technik hin. „Noch nie ist es so einfach gewesen, mit Abgeordneten in Kontakt zu treten“, meinte er. Das Internet biete zudem die Möglichkeit, sich schnell Informationen zu verschaffen. Gleichzeitig berge das die Gefahr, dass junge Menschen ungefiltert mit menschenverachtenden Inhalten konfrontiert werden. 

Als bildungspolitischer Sprecher der FDP/DVP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag setzte Kern sich dafür ein, dass die Schule ihren Erziehungsauftrag ernst nimmt. Um eine Radikalisierung von Schülern zu verhindern, sei es notwendig, flächendeckend Ethikunterricht ab der ersten Klasse in der Grundschule einzuführen. Dieser biete - wie der Religionsunterricht - eine Chance für Demokratiebildung. 

Als ehemaliger Gemeinschaftskundelehrer plädierte Kern auch dafür, in der Schule den Fokus auf die politische Bildung zu legen. „Wichtig ist es, allen Schülern ein verbindliches Angebot zu machen, um das Wertefundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu vermitteln.“ 

Medienkompetenz stärken

Ziel sollte es sein, junge Menschen zur Teilnahme in der Politik zu ermutigen. Wichtig sei es außerdem, die Medienkompetenz der Schüler zu stärken.

Vielleicht hilft auch ein Blick über den Tellerrand. Der französische Psychologe Tisseron hat eine handliche Faustregel für Eltern formuliert: Kein Fernsehen unter drei Jahren, keine eigene Spielkonsole vor sechs, Internet frühestens nach neun und soziale Netzwerke erst ab zwölf. 

Schüler als Versuchskaninchen

In Dänemark – Spitzenreiter bei der Digitalisierung von Schule – hat der Bildungsminister sich bei den Jugendlichen im Land dafür entschuldigt, dass man sie zu „Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment“ gemacht habe und den Schulen empfohlen, die Smartphone-Nutzung im Unterricht zu verbieten. Die Regierung hat zudem angekündigt, „einige hundert Millionen Kronen“ dafür bereitzustellen, dass alle Schulen wieder mit klassischen Büchern ausgestattet werden. 

Hoffnung gibt auch eine Beobachtung, die Felten in der U-Bahn gemacht hat. „Ich habe eine Mutter gesehen, die ihren Kindern aus einem Buchvorgelesen hat.“ Ein solches Erlebnis würde Michael Felten gern öfter haben. 

Bericht von Dr. Ulrich Feuerstein 

Foto von Jürgen Vossler:

Das Podium mit  Dr. Timm Kern, bildungspolitischer Sprecher der FDP/DVP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, stellv. Kreisgeschäftsführer Dr. Michael Storch, FDP-Kreisvorsitzender und Kreisrat Jürgen Vossler sowie der Pädagoge, Sachbuchautor und „Zeit“-Kolumnist Michael Felten im Hotel „Rebgut“​